Peter Trawny definiert Pop offen. Klassik, Jazz, Schlager, Oper, alles ist Pop. „Ich meine, dass heute im Grunde jede Musik, ja, auch jede Philosophie, warenförmig und das heißt, Pop ist“, erklärt er im Gespräch. Am Beispiel der klassischen Musik führt er genauer aus, was er damit meint. „Ich meine, dass heute auch die Warenförmigkeit der Klassischen Musik Pop ist. Die Solisten müssen immer hübscher, sexyer werden, etcetera. Ich sehe kaum einen Unterschied zwischen der Aufführung einer Wagner-Oper im Opernhaus und den Einstürzenden Neubauten im selben Opernhaus.“ Und wie in dieser Aussage schon angedeutet, ist für Trawny auch der Unterschied zwischen U- und E-Musik irrelevant. Aber: „Obwohl ich zwischen U- und E-Musik keinen essentiellen Unterschied mehr machen würde, meine ich, dass deshalb nicht alles schon dasselbe ist.“ Helene Fischer ist nicht dasselbe wie John Coltrane.
Objektiven Begründungen dafür, warum jemand eine bestimmte Musik gut findet, gibt es nicht. Alle Argumente und Begründungen sind nur nachgereichte Pseudorationalisierungen. Eigentlich geht es um „existentielle“ Erfahrungen, die man mit Musik gemacht hat und die das Leben und den Geschmack prägen. „Das offene Ohr hört die verschiedenen Musiken, die sich in ihrem Eigenen bewegen.“
Pop ist für Trawny ein Synomym von Adornos Begriff „Kulturindustrie“. Das meint er allerdings keineswegs negativ. „Der kritische Gebrauch des Begriffs „Kulturindustrie“ ist heute absurd.“ Es gibt heute keinen Lebensbereich mehr, der den Produktionsbedingungen des Marktes entkommt.
Peter Trawny ist Philosoph in Wuppertal. Er kennt sich mit Heidegger aus, mit der Globalisierung und der Frage, was Deutsch ist. Jetzt hat er ein Buch über Musik geschrieben. Das liegt nahe, denn er hat auch Musikwissenschaften studiert.
Das Buch heißt „kamikaze musike, playlist“. Auf 167 Seiten versammelt das dünne Bändchen kurze Texte über alles, was das Thema Musik so hergibt. Es geht um Musikstücke aus Klassik, Pop und Jazz, oft um bestimmte Interpreten, aber auch um Poptheorie und Musikphilosophie.
Musik ist für Trawny „kami kaze“, in der wörtlichen Übersetzung „göttlicher Wind“. Eine das Leben intensivierende Kraft, die es formt und gestaltet. „Der Sturzflug des Lebens, in dem Leben intensiver wird“, erklärt der Autor im Gespräch. Der Begriff „musike“ bezieht sich auf Nietzsches „Geburt der Tragödie“. Musik, heißt es dort, ist geboren aus der Verbindung von Schmerz und Lust, aus dem Geist des Dionysischen. Man merkt schon, für den Autor ist Musik eine schwer zu greifende Erscheinung. „Zeichen des Anderen, Merk-Mal eines Nichts, das doch alles ist, in mir.“ Trawny bezeichnet sein Buch als einen subjektiven von seinen Hörerfahrungen geprägten Text, seine „eigenste Playlist“.
Nun ist da aber auch noch das Versprechen des Verlages, dass das Buch „einen Raum, die eigene Biografie zu reflektieren“ eröffne. Man könnte als Leser also erwarten, dass es in den kleinen Kapiteln um anti-nostaligisch geschilderte und philosophisch reflektierte existenzielle Erfahrungen mit Musik geht. Und in seinen besten Momenten löst das Buch dieses Versprechen ein. Dann gelingen dem Autor schöne Texte. Etwa über Marc Bolan oder Led Zeppelin. Am schönsten ist in dieser Hinsicht der Text „Musik und Erinnerung“. Das Stück „Breath“ des Cinematic Orchestras wird hier mit einem merkwürdigen Erlebnis des Autors in Verbindung gesetzt.
Die meisten Texte sind aber eher historische und philosophische Reflektionen. Mit dem souveränen Wissen des Musikerwissenschaftlers, verknüpft Trawny lässig Sound, Lyrics und Historie. Was ihm diese Musik persönlich bedeutet, und vor allem, warum sie ihm etwas bedeutet, erfährt der Leser nicht. Die Texte erinnern eher an Rezensionen. Vor allem in dem Text „Stimme“, in dem es um die Stimme der Fleetwood Mac Sängerin Stevie Nicks geht, verrennt sich Trawny in eine esoterisch-heideggersche Sprachhuberei.
Wie spannend hätte es sein können, wenn Trawny von seinen existenziellen Erfahrungen berichtet hätte? Wenn sich seine „Hörbiographie“ (Bodo Mrozek), also Menschen, Dinge, Orte, Momente und Gefühle mit philosophischen und musikwissenschaftlichen Gedanken verwoben hätten? „Allerdings ist das ja nur ein kleines Buch, man sollte seinen Anspruch nicht zu groß machen“, sagt Trawny.
Obwohl nur klein, bildet das Buch trotzdem einen interessanten Kontrast zu ein paar Veröffentlichungen zur Poptheorie in den letzten zwei Jahren, die den Popbegriff eher enger definieren.
Erst vor kurzem hat Bodo Mrozek in seinem phänomenalen Werk „Jugend/Pop/Kultur“ eine materialreiche historische Definition des Popdispositivs vorgelegt. Im Gegensatz zu Trawny, grenzt Mrozek den Begriff klar ein. Er beschreibt die wirtschaftlichen (Aufschwung der Nachkriegszeit), technischen (45er Single, billige Plattenspieler, Radio, Fernsehen) und gesellschaftlichen Bedingungen (junge Gesellschaften, Demokratie), unter denen Pop sich zwischen 1956 und 1966 etabliert hat.
Nils Penke und Matthias Schaffrick (Populäre Kulturen zur Einführung) definieren Popmusik in ähnlicher Weise. Erstens als einen sehr breiten Stilverbund, zweitens als die Übernahme „hochkultureller Muster“ ins Populäre und drittens weisen sie darauf hin, dass gerade Popmusik ihre Aura aus den Verkaufszahlen zieht. Deshalb sind Charts und Hitlisten im Pop so wichtig. Schaffrick/Penkes Unterscheidung zwischen „populären Kulturen“ und „Pop“ könnte helfen, Trawnys ausfransenden Popbegriff zu strukturieren.
Auch Moritz Baßler verortet in seinem Buch „Western Promises“ die Wurzeln des Pop in den Fünfzigern (vor allem in Elvis) und dem Rückkopplungsprozess zwischen Publikum und Künstler. Ihm gelingt eine klare Definition, worin der Warencharakter der Popmusik besteht. Nämlich in der nahen Verwandtschaft zur Werbeästhetik. Werbung und Pop bieten Antworten auf die Frage: Wie will ich leben? Aber während Popmusik bereits im Hören einen Teil des Versprechens einlöst, wird das Versprechen der Werbung erst mit dem Kauf des Produktes (vielleicht) eingelöst. Popmusik wäre ohne Kapitalismus und ohne Markt nicht denkbar. „Pop ist Warenförmig“, schreibt er, „und das ist auch gut so.“ Pop, so meint Baßler, sei die ästhetische Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben. Und diese Manifestation eröffne den Popmusikhören plurale Antworten auf die Frage: Wie will ich leben?
Mit diesen Autoren gemeinsam hat Trawny, das affirmative Verhältnis zur Warenförmigkeit der Popmusik. Was ihn klar unterscheidet ist nicht nur seine philosophische Herangehensweise an das Thema, sondern auch sein weiter Popbegriff.
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