Elvis: Schåfseckl und Schlangankeler

„Isch des d‘ Älwis?“, fragte meine Mutter mit dem Spültuch in der Hand. Ich nickte. Sie sollte schnell wieder gehen. Ich schaute nämlich „Rhythmus hinter Gittern“ und sie störte. Es war der lange Sommer 1984 und ich war zwölf Jahre alt. Die bisherigen Elvis-Filme waren immer ziemlich vorhersehbar gewesen. Elvis hatte irgendeinen supercoolen Job. Und auch er selber war supercool. Außerdem hatte er einen leicht vertrottelten Kumpel, der nicht ganz so gut aussah, wie er selber. Dann gab es zwei Frauen, mit denen Elvis etwas am Laufen hatte. Eine davon bekam am Ende Elvis, die andere den trotteligen Kumpel. Aber bei diesem Elvis-Film ging es dramatischer zu. Gleich am Anfang hatte er einen Mann totgeschlagen und war dafür in den Knast gewandert.

Meine Mutter verfolgte lau amüsiert, was auf dem Bildschirm unseres Saba-Farbfernsehers in dem schwarz-weiß Film vor sich ging. „Des war doch an riesa Schåfseckl, d‘ Älwis“, sagte sie in Richtung Bildschirm. „Seckl“ ist das schwäbische Wort für Penis.  In den Augen meiner Mutter gab es eine Menge Leute, die Schafspenisse waren. Der Nachbar, der immer piepste wie eine Maus, wenn er im Garten arbeitete und eine Frau oder ein Mädchen vorbei ging; Beschnew und Ronald Reagan, wenn sie in den Nachrichten kamen und Udo Jürgens, wenn er in der ZDF-Hitparade auftrat. Und jetzt eben auch Elvis. Andere Leute waren Arschlöcher, Simpel, Grasdackel oder sogar -wenn die Situation entsprechend war- kleine Rammler. Aber Elvis war ein Schåfseckl wie der Reagan, Breschnew und Jürgens. Ich verstand nicht wie er in diese Reihe passte, aber ich würde auch nicht fragen. Denn dann würde sie anfangen es zu erklären und mir den ganzen Film versauen.

Eine Woche vor den Sommerferien war ich am Blinddarm operiert worden. Ich hatte zwei herrliche Wochen im Krankenhaus verbracht. Der Vater meines Bettnachbarn hatte uns in der zweiten Woche ein tragbares Fernsehgerät in das Zimmer gestellt. Nachmittags schauten wir Captain Future und Dudu-Filme im ZDF. Und jeden Morgen um 10.30 lief ein Elvis-Film im ORF. Mein Heimatort ist in der Nähe des Bodensees, da konnte man sowohl schweizerisches als auch österreichisches Fernsehen empfangen. Ich hatte vorher schon Musikfilme mit Peter Alexander, Peter Kraus und Caterina Valente gesehen, die ich toll gefunden hatte. Aber dann kam Elvis. Elvis war schöner, sexier, cooler und vor allem amerikanischer als all die deutschen und österreichischen Sänger*innen.

Wieder zu Hause kramte ich die alte Gitarre meines Vaters vom Dachboden. Denn das, was Elvis in den Filmen machte, wollte ich auch tun. In irgendwelchen ganz normalen Alltagssituationen fing er plötzlich an, zu singen und zu tanzen. Und hinterher fanden ihn alle voll gut, oder er knutschte mit einem Mädchen. Ich stellte mir vor, wie ich im Matheunterricht plötzlich ein Lied singen würde, wenn ich gerade die richtige Antwort nicht wusste. Die ramponierte Gitarre meines Vaters war eine F-Loch Sunburst-Jazzgitarre, die er Mitte der Fünfziger Jahre bei seinen Bands „Starzel-Echo“ und „Blaue Jungs“ gespielt hatte. Jedenfalls stellte ich mir vor, wie ich plötzlich auf meinem Tisch stand mit genau dieser Gitarre im Anschlag, sang und tanzte, der Mathelehrer swingte mit und hinterher fanden mich alle voll gut. Auf das Knutschen konnte ich verzichten.

Meine Mutter ging zum Glück wortlos in die Küche zurück. Ich hatte meinen Kassettenrecorder auf dem Schoß. Mit ihm nahm ich alle Songs des Filmes auf. „Jailhouse Rock“ und „Baby I don’t care“ waren unglaublich toll. Auch die Auftritte dazu im Film. So musste man sein. Genau so.

Aber ich war nicht so. Ich spielte kein Instrument, ich machte keinen Sport. Ich war ein Bohnenstängelchen, das zu Hause vor dem Fernseher saß und Schokolade fraß. Den ganzen Tag. Aber zu sein wie Elvis erschien mir plötzlich eine realistische Alternative zu sein. Jedenfalls realistischer als Old Shatterhand oder  Captain Future. Denn Elvis hatte es ja in echt gegeben. Und er war auf gar keinen Fall ein Schafspenis. In meinen Augen war er eher ein Schlangankeler. „Schlangankeler“ nannte meine Mutter die gelenkigen Tänzer*innen im Fernsehen. Bei „Musik ist Trumpf“ oder so. Nur Elvis war viel cooler. Er lächelte beim Tanzen nicht so angestrengt, sondern war voll in der Musik drin.

„Rhythmus hinter Gittern“ hieß im Original „Jailhouse Rock“, wie der gleichnamige Hit. In den USA kam der Film 1957 in die Kinos, in Deutschland 1958. Elvis war zu diesem Zeitpunkt der Größte. Der Film war ehrgeizig. Das Drehbuch schrieb Guy Trosper, der 1953 für den Oscar nominiert worden war und der 1965 das Drehbuch für „Der Spion, der aus der Kälte kam“ schrieb. Und die Geschichte ist nicht schlecht. Für einen Elvis-Film. Der Lastwagenfahrer Vince Everett erschlägt in einer Bar einen Mann und muss dafür ins Gefängnis. Das tut ihm nicht gut. Er entwickelt sich zu einem abgebrühten Zyniker, der glaubt, er könne Menschen für seine Zwecke benutzen. Nach seiner Entlassung begegnet der musikalisch begabte Lastwagenfahrer der jungen Peggy, mit der er eine Plattenfirma gründet. Dank ihrer klugen Führung wird Vince ein Star. Die Gesangseinlagen im Film folgen also einem realistischen Konzept und sind weniger musicalmäßig. Je erfolgreicher Vince wird, um so arroganter wird er. Schließlich provoziert er seinen alten Knast-Kumpel Hunk so sehr, dass dieser ihn niederschlägt und ausgerechnet am Kehlkopf verletzt. Damit steht die Rock’n Roll-Karriere auf der Kippe. Im Krankenbett wird Vince geläutert. Er und Peggy werden (natürlich) ein Paar und mit seinem Kumpel Hunk versöhnt er sich. Und gesund wird er auch wieder.

Elvis legt sich schauspielerisch richtig ins Zeug. Noch überzeugender sind die Musiknummern. Allen voran natürlich die berühmte „Jailhouse Rock“ Choreographie. Regie führte der Vollprofi Richard Thorpe, der seit der Stummfilmzeit einen Film nach dem anderen herunterfilmte. Darunter der großartige Fred-Astaire-Film „Three little Words“, aber auch echte Kracher wie „Ivanhoe – Der schwarze Ritter“ oder „Die Ritter der Tafelrunde“ mit Robert Taylor. Mit Elvis drehte er später noch „Fun in Acapulco“. „Rhythmus hinter Gittern“ war einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 1957. Trotz Ehrgeiz wurde der Film von der Kritik sehr lau aufgenommen. Aber ich nahm den Film überhaupt nicht lau auf mit zwölf. Ich war schwer beeindruckt. So schwer konnte man es als Star haben! Der arme Elvis!

Zu sechzig Prozent der Laufzeit von „Rhythmus hinter Gittern“ mimt Elvis einen echten Schåfseckl. Und zwar ziemlich überzeugend. Eine arme Wurst, die sich für ein Alphatier hält. Als ich den Film jetzt wieder gesehen habe, dachte ich, dass meine Mutter das Wort Schåfseckl vielleicht phallokratisch konnotiert hat. Das Schaf als Metapher für unempathische, stiere Blödheit, der Seckel für die Männerherrschaft. Denn genau so benimmt sich der von Elvis gespielte Vince in „Rhythmus hinter Gittern“. Sich selber bringt er mit seinem toxischen Männlichkeitsgetue nur in Schwierigkeiten. Er muss ins Gefängnis und er wird auf gefährliche Weise verletzt. Und jedes Mal ist es eine Frau, die ihn rettet, nämlich seine stille und fleißige Geschäftspartnerin Peggy. Und der Blödmann merkt es nicht einmal, weil ihm sein übergroßes Ego die Sicht verdeckt.  Peggy erkennt sein Starpotential und fördert es und sie hilft ihm mit ihrer unerschütterlichen Zuneigung. Das ist natürlich kitschig. Aber auch interessant, wenn man an Elvis enge Bindung an seine Mutter („That’s allright, Mama!“) und seinen patriarchalen Manager Colonel Parker denkt.

Vielleicht ging es meiner Mutter aber auch nur um die unanständigen Beckenbewegungen von Elvis? Ich weiß es nicht. Ich kann sie auch nicht mehr fragen. Sie ist 1996 gestorben. Aber meine Mutter, der Schåfseckl, der Schlangankeler und „Rhythmus hinter Gittern“ gehören seit diesem Morgen 1984 für mich zusammen. 

Im August 1984 ging ich zum ersten Mal in den Gitarrenunterricht im Soldatenheim. Im September kaufte ich mir für fünf Mark ein riesengroßes Elvisposter und hängte es über mein Bett. Es zeigte den schönen, jungen Elvis in Jeans und Hemd mit Gitarre. Die anderen hängten Limahl oder Boy George auf. Ich nicht. Ich hängte den King an meine Wand. Wir hatten schließlich den ganzen Sommer miteinander verbracht.

Über Ens Oeser

Ens Oeser hat keine Meinung.
Dieser Beitrag wurde unter Popkultur abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..