Die Normalisierung von Zukunftslosigkeit – Interview mit Stefan Wellgraf

Stefan Wellgraf hat ethnologische Feldforschung in einer Berliner Hauptschule betrieben. Herausgekommen ist dabei das Buch „Schule der Gefühle“. Was sich anhört wie ein verschollenes Werk von Marcel Proust, ist eine grundlegende Kritik am Schulsystem. Eine Institution von gestern, trifft auf die SchülerInnen von heute. Wellgraf hält das Schulsystem für dysfunktional, weil es den SchülerInnen keine Perspektive bieten kann. Im Gegenteil. Lehrkräfte, Eltern und SchülerInnen sind stattdessen gefangen in einem System, das strukturell Diskriminierung erzeugt. Der Autor interessiert sich vor allem für die Perspektive der SchülerInnen. Wie fühlt man sich als Bildungsverlierer? Wie geht man um mit der strukturellen Ausgrenzung durch die Schule? Die Kritik des Buches bekommt ihre Wucht dadurch, dass Wellgraf Gefühle und Machtbeziehungen in Verbindung setzt.
„Gefühle“ sind für Wellgraf nicht individualpsychologische, natürliche Reaktionen. Er betrachtet sie als gesellschaftlich erzeugt und letztlich genutzt als neoliberales Machtinstrument. Das Perfide am Schulsystem ist aus seiner Sicht , dass die SchülerInnen den Blick des Schulsystems auf sich selber übernehmen und sich minderwertig fühlen.
Wellgraf beschreibt den Schulalltag. Resignierte und Lehrkräfte, gelangweilte und desinteressierte SchülerInnen, Regeln, die kaum noch greifen. Er beschreibt die Langeweile im Unterricht. Er zeigt, wie sich die SchülerInnen die von ihnen als sinnlos empfundene Unterrichtszeit versuchen zu verkürzen. Er zeigt Coolness und Stolz, aber vor allem Gefühle der Unzulänglichkeit, wie Scham und Peinlichkeit, Wut und Aggressivität, sowie Zukunftsängste und Hoffnungen. Die von ihm beobachtete Schule sei, schreibt Wellgraf, „eine gesellschaftliche Institution der Normalisierung von Zukunftslosigkeit.“

Stefan Wellgraf ist an der Viadrina in Frankfurt/Oder Professor für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie.

Ens Oeser: Ihre Absicht ist die Formulierung einer grundlegenden Schulkritik. Sie sagen, die Institution Schule erscheine einerseits wirkmächtig, andererseits dysfunktional. Die Schule sei eine Institution zur Normalisierung von Zukunftslosigkeit, ein pathologisches Gebilde, das Lernen eher verhindert. Können Sie zu diesen Äußerungen Stellung beziehen?

Stefan Wellgraf: Unser Schulsystem selektiert Bevölkerungsgruppen mit weitreichenden Folgen für die späteren Lebenswege, wobei häufig soziale Zuschreibungen eine zentrale Rolle spielen. Das hierarchisch gegliederte Schulsystem spiegelt dabei letztlich unser Klassensystem wider und reproduziert dieses gleichsam auf eine alltägliche, kaum hinterfragte Weise. Die Aussagen zur Dysfunktionalität, Zukunftslosigkeit und Pathologie beziehen sich auf meine ethnografischen Forschungen an einer Neuköllner Sekundarschule. Dabei fiel mir auf, dass dort kaum noch ein geregelter Unterricht stattfinden konnte. Vor allem aggressiv auftretende männliche Schüler boykottierten den Unterrichtsbetrieb, da dieser ihnen keine Perspektive mehr bot. Von einem Abschlussjahrgang mit etwa 50 SchülerInnen fanden direkt nach der Schule meist nur zwei oder drei AbsolventInnen einen Ausbildungsplatz. Dadurch stellte sich irgendwann von selber die Frage, warum man überhaupt noch zur Schule kommen und dort den Anweisungen folgen sollte? Den SchülerInnen wurde übrigens teilweise trotz Bewerbungsmangel der Zugang zum Arbeitsplatz verwehrt, indem sie als „nicht ausbildungsfähig“ kategorisiert wurden. Dies hing in erster Linie mit ihrem als deviant markierten Sozialverhalten zusammen. Ihr aufmüpfiges und provokantes Verhalten lag aber nicht, wie häufig behauptet, an deren migrantischen Elternhäusern und vermeintlichen Charakterdefiziten, sondern wurde durch die Schule selbst hervorgebracht, die ihnen kein Bildungsversprechen mehr anzubieten hatte.

Ens Oeser: Sie wollen die Perspektive der Jugendlichen einnehmen, indem sie die Erfahrung der Minderwertigkeit beschreiben und wie sie erlebt und verarbeitet wird. Wer verachtet die Schüler/innen denn? Ist das nicht eine sehr individuelle Sache?

Stefan Wellgraf: Es ist die Gesellschaft – also letztlich wir alle – die diese Zuschreibungen von Höher- und Minderwertigkeit mittragen. Zu den Eigenarten gegenwärtiger Herrschaftsmechanismen gehört es, dass soziale Ausgrenzungen in erster Linie als individuelles Defizit und weniger in Bezug auf gesellschaftliche Machtstrukturen wahrgenommen werden. Diese Form der Erfahrung von Stigmatisierung und Exklusion ist wiederum stark emotional geprägt: Die Schüler sind wütend auf ihre Lehrer und gelangweilt von ihrem Schulalltag, sie schämen sich für ihre Schulnoten und haben Angst vor Arbeitslosigkeit. In meinem Buch geht es darum, die gesellschaftliche Hervorbringung von solchen Gefühlen herauszuarbeiten und eine politische Lesart solcher Gefühlslagen zu entwickeln – ohne dabei individuelle Unterschiede und situative Dynamiken aus dem Blick zu verlieren. Dafür muss man sich von einem tradierten Emotionsverständnis lösen, dass Gefühle in erster Linie als eine individualpsychologische Ausdrucksform oder als eine natürliche Reaktionsweise begreift.

Stefan Wellgraf: Schule der Gefühle. Erschienen bei transcript.

Ens Oeser: Sie wollen den „Gefühlsraum“ Schule anhand von „Gefühlskomplexen“ und einer „Affekt-Karte“ beschreiben. Was meinen Sie damit?

Stefan Wellgraf: Bei aller Unterschiedlichkeit zeichneten sich doch gewisse Gefühlsbündel ab, die für die untersuchte Schule aber auch für die emotionale Erfahrung von Minderwertigkeit insgesamt prägend sind: Das sind für mich Langeweile/Kurzweile, Formen der Selbstermächtigung wie Coolness und Stolz, Gefühle der Unzulänglichkeit wie Scham und Peinlichkeit, Wut und Aggressivität sowie Zukunftsgefühle wie Ängste und Hoffnungen. Jedem dieser Gefühlskomplexe sind Kapitel in meinem Buch gewidmet, wodurch ich eine Art emotionales Panorama aufzeige. In Anlehnung an Deleuze und Guattari könnte man dies auch als eine „Affekt-Karte“ oder als eine „Assemblage“ bezeichnen. Dabei werden heterogene, auch sich gegenwärtig erst herausbildende und unabgeschlossene Gefühlskomplexe rekonstruiert und arrangiert. So zeige ich beispielsweise im von Lauren Berlant inspirierten Kapitel zu „Cruel Optimism“, dass in Zeiten, in denen die berufliche Aussichten breiter Bevölkerungsschichten zunehmend prekär erscheinen, „traditionelle“ Fantasien eines Lebens in Wohlstand, Sicherheit und Geborgenheit wieder aufblühen, die starke Fixierung darauf aber gleichsam zu einem Hindernis für das psychische Wohlbefinden und das berufliche Fortkommen werden können.

Ens Oeser: Sie beschreiben in ihrem Buch Langeweile/Kurzweile. Warum langweilen sich Schüler/innen in der Hauptschule?

Stefan Wellgraf: Sie langweilen sich, da Ihnen die Schule keine berufliche Perspektive mehr bieten kann und auch inhaltlich kaum Bildungsprozesse angestoßen werden. Dies führt dazu, dass sie entweder überhaupt nicht mehr zur Schule kommen oder sich in der Schule mit anderen Dingen beschäftigen. Damit verbunden ist die Suche nach kurzweiliger Ablenkung, häufig in Form von lockeren „Blödeleien“ und derben „Pöbeleien“. Dabei geht es nicht nur um Zeitvertreib, sondern im spielerischen und aggressiven Modus wird auch Kritik artikuliert, etwa an der Scheinheiligkeit pädagogischer Bemühungen wie dem Stuhlkreis, die eine demokratische Fassade aufbauen und ein Interesse an den Meinungen der Schüler vorgaukeln, doch letztlich in autoritärer Weise als Disziplinarinstrument eingesetzt werden.

Ens Oeser: Sie schreiben, dass auch Coolness ein Form des Umgangs mit Minderwertigkeitsgefühlen ist. Was hat sie mit der Erfahrung von Minderwertigkeit zu tun?

Stefan Wellgraf: Coolness ist für mit sozialer Abwertung konfrontierte Heranwachsende eine Möglichkeit, emotionale Distanz und eine gewisse Gelassenheit zu demonstrieren. Gleichzeitig wird damit Status und Prestige innerhalb der Schülerschaft reklamiert. Dabei handelt es sich um eine spezielle, stark migrantisch und proletarisch geprägte Form von jugendlicher Coolness, in der Körperbeherrschung, Wortgewandtheit und Konsumorientierung eine wichtige Rolle spielen. Damit löst man zwar nicht die schulischen Probleme, vermeidet aber eine demütigende Opferhaltung. Allerdings kann dieses Verhalten auch selbst neue Probleme hervorrufen, etwa wenn eine anti-schulische Haltung zur Coolness-Norm wird und sich Lehrkräfte von aufreizender Coolness provoziert fühlen und diese sanktionieren.

Ens Oeser: Sie sind kein Pädagoge, warum wollen Sie die Schule kritisieren?

Zum einen, weil hier grundlegende Prozesse neoliberaler Herrschaftsweise untersucht werden können, allen voran die emotionalen Folgen einer individualistischen Verantwortungszuschreibung gegenüber Bildungsverlierern, sich aber auch Widersprüche und Erosionen von Formen der sozialen Reproduktion andeuten. Zum anderen, weil in der Debatte um schulische Probleme die Perspektive der Institution viel zu dominant ist. Aus Sicht der Schule sind natürlich die Schüler und Eltern die Hauptschuldigen an der Misere, aus meiner Sicht ist es in erster Linie das Schulsystem selbst, dass die Probleme hervorbringt. Das heißt natürlich nicht, nur LehrerInnen individuell zur Verantwortung zu ziehen, diese sind häufig selbst Gefangene eines Bildungswesens, dass ihren eigenen Idealen und Ansprüchen in vielerlei Hinsicht widerspricht. Die damit verbundenen emotionalen Reaktionen sind ebenso heterogen und vielschichtig – mein Kollege Hauke Strehler-Pohl, der an ähnlichen Berliner Schulen geforscht hat – beschäftigt sich mit dieser Frage.

Interview zu Stefan Wellgrafs Buch „Hauptschüler“ hier.

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